Abschied von Deutschlands Kultstar Nummer 1

Goodbye Udo Kier

Am 23. November 2025 ist die Schauspiel-Ikone Udo Kier im Alter von 81 Jahren verstorben. Hiermit gedenkt Tele.ch-Redaktor und Kier-Aficionado Patrick Schneller dem Weltenbummler, der vor allem das Genrekino über 50 Jahre lang prägte.

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Voll erleuchtet: Udo Kier in seiner letzten Hauptrolle in «Swan Song» (2021).

Voll erleuchtet: Udo Kier in seiner letzten Hauptrolle in «Swan Song» (2021).

Imago

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Wenn er nicht gerade irgendwo auf der Welt für einen Film vor der Kamera stand, lebte der am 14. Oktober 1944 im zerbombten Köln als Udo Kierspe geborene Bonvivant seit 1991 im kalifornischen Palm Springs. Dort starb er am Morgen des 23. November 2025. Seit seinem Spielfilm-Debüt im damals skandalträchtigen österreichischen Thrillerdrama «Schamlos» (1968) von Eddy Saller trat Udo Kier in annähernd 300 Filmen und Serien auf; darunter einige Reisser, die den Zensurbehörden auf der ganzen Welt Kopfzerbrechen bereiteten. Kier verkörperte von Dr. Jekyll über Papst Innozenz VIII bis zum eisernen «Mondführer» Wolfgang Kortzfleisch praktisch alles, auch sich selbst. 

Zu Kiers Credits zählen so obskure Werke wie die französische Sci-Fi-Erotik-Groteske «Spermula» (1976), Hollywood-Hits wie «Ace Ventura» (1994) und Arthouse-Favoriten wie «Dancer in the Dark» (2000). Selbst unsägliche Gurken wertete er auf, zum Beispiel als Hermann Gessler den Schweizer Komödienflop «Tell» (2007). Auch sonst war Kier trotz kalifornischer Wahlheimat regelmässig in deutschsprachigen Produktionen wie der NDR-Kinderserie «4 gegen Z» (2005-2007) und der Satire «Das Leben ist zu lang» (2010) des Basler Wahlberliners Dani Levy zu sehen. 1992 spielte Kier in zwei Musikvideos von Madonna mit, und ab Juni 2020 war er Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die die Oscars verleiht.

Es würde den Rahmen sprengen, alle bemerkenswerten Rollen von Udo Kier aufzuführen. Daher Vorhang auf für eine kleine Rückschau auf sein unverkennbares und unvergessliches Wirken über sechs Jahrzehnte anhand von 25 teils weniger bekannten Werken:
 

«Hexen bis aufs Blut gequält» (D 1970)

Als die Hexenjägerfilmwelle über die Kinowelt schwappte, entstand dieser internationale Kassenschlager aus deutscher Produktion, auf Englisch bekannt als «Mark of the Devil». Kier spielt den romantischen Helden, der das Publikum mit ihm um seine Liebste bangen lässt, und den am Schluss ein grauslich bitteres Ende ereilt.

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«Andy Warhols Frankenstein» (I/F/USA 1973)

«Andy Warhols Dracula» (I/F/USA 1974)

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Mit Baron Frankenstein und Graf Dracula verkörperte der damals als einer der schönsten Männer der Welt gepriesene Kier nacheinander zwei der ultimativen Ikonen der Populärkultur. Und begeistert in ersterem (in 3D!) unter anderem mit der Aussage «To know death, Otto, you have to fuck life in the gall bladder!», in letzterem als bemitleidenswerter Blutsauger, der nur jungfräulichen Lebenssaft verträgt… aber keinen findet: «The blood of these whores is killing me!»

«House on Straw Hill» (Exposé; GB 1976)

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In diesem auch als «Trauma» veröffentlichten, von der Zensur jahrzehntelang gnadenlos gebeutelten, psychosexuellen Horrorthriller brilliert Kier als paranoider Schriftsteller irgendwo zwischen Ernest Hemingway und Norman Bates, inklusive «Psycho»-tischer Duschszene.
 

«Suspiria» (I 1977)

Okay, Dario Argentos hypnotischer Kracher wäre auch ohne Kier zum Klassiker geworden. Aber sein Gastauftritt mit nur einer Szene legte den Grundstein dafür, dass er auch in scheinbar marginalen Rollen alles bereicherte, worin er auftauchte. Für «The Mother of Tears» (I/USA 2007) spannte Kier 30 Jahre später wieder mit Argento zusammen.
 

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«Lili Marleen» (D 1981)

Man kann kein Kier-Listicle machen, ohne seine wohl feinste von fünf Kollaborationen mit Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) wertzuschätzen, die (neben dem Deutschen Reich) sogar Zürich zum Schauplatz hat.
 

«Die Insel der blutigen Plantage» (D/RP 1983)

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Mit anderen Fassbinder-Alumni wie Peter Kern (1949–2015) und Kurt Raab (1941–1988) reiste Kier auf die Philippinen, um diesen Frauenknast-Reisser in der Südsee zu drehen. Er spielt einen Wärter, der sich in eine Inhaftierte verliebt und ins Visier der «blutigen Olga» (Barbara Valentin!) gerät. Viel abenteuerlicher als der Film selbst waren die untragbaren Zustände am Set: Praktisch umgehend kam es zum Zerwürfnis zwischen der deutschen und der einheimischen Crew, worauf der philippinische Koproduzent Felipe G. Ortega Jr. das Equipment beschlagnahmen lassen wollte. Kameras mussten in Kirchen versteckt, Negative zur Entwicklung nach Hongkong geschmuggelt werden – und Kier & Co. brauchten wegen des rabiaten Ortega Jr. und echten Rebellen Personenschutz.
 

«Schatten des Zweifels» (D 1985)

In der vierten Episode der leider kurzlebigen, sechs Folgen umfassenden ARD-Serie «Gespenstergeschichten» verkörpert Kier mit seinem charakteristisch stechenden Blick den vielleicht verführerischsten Geist der Filmgeschichte.  

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«Egomania: Insel ohne Hoffnung» (D 1986)

Udo Kiers erste Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief (1960–2010). Als Baron Tante Teufel (yes!) legt er sich mit Tilda Swinton an, die beim Dreh Schlingensiefs Freundin wurde (immer noch eine der verblüffendsten Beziehungskisten der Filmhistorie), was für Spannungen sorgte. Kier spielte danach in acht (also fast allen) weiteren Schlingensief-Filmen, darunter sich selbst in der Titelrolle der grandiosen 45-minütigen Pseudo-Doku «Tod eines Weltstars» (1992) für den WDR.

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«My Private Idaho» (USA 1991)

Im Kult-Drama von Gus Van Sant um zwei befreundete Sexarbeiter (Keanu Reeves, River Phoenix) ist Kier als Ex-Stricher und Neo-Freier Hans mit dabei. Abgesehen davon, dass der Film eh mitreisst, öffnete er dem Charakterkopf alle Tore in Hollywood. 
 

«Geister» (1994, 1997, 2022)

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Udo Kier und Lars von Trier (das reimt sich!) verband eine lange Freundschaft. Ab «Epidemic» (1987) war Kier immer wieder in Filmen des dänischen Provokateurs zu sehen – und in allen 13 Folgen der kaum kategorisierbaren Spitalserie «Geister» (alias «Hospital der Geister»). Seine Doppelrolle als finsterer Dämon Åge Krüger und dessen kränkliches Baby mit dem Kopf eines Erwachsenen ist selbst für Kier’sche (und von Trier’sche) Verhältnisse ungemein bizarr.
 

«Blade» (USA 1998)

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Als Paradebeispiel für Kiers unzählige Hollywood-Auftritte seine Rolle in dieser Marvel-Verfilmung als Vampirfürst Dragonetti mit dem Satz (wie immer in seinem unverwechselbaren Akzent): «We have existed this way for thousands of years!»
 

«Shadow of the Vampire» (GB/L/USA 2000)

Das einzigartige Meta-Mysterium stellt die Frage: Was wäre gewesen, wenn Max Schreck, der «Nosferatu» (1922) spielte, wirklich Nosferatu gewesen wäre? Mit Willem Dafoe als Schreck (!), John Malkovich als Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau (!!) und Kier als Produzent Albin Grau (!!!). Schlicht wow!
 

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«Love Object» (USA 2003)

Was Udo Kier auch unschlagbar machte, war seine Vorliebe für kleine schräge Schocker. Wie dieses skurrile Teil, in dem die Sexpuppe eines Einzelgängers (Desmond Harrington) ein mörderisches Eigenleben entwickelt. Kier glänzt hier als exzentrischer Nachbar.
 

«One Point Zero» (USA/IS/RO 2004)

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Apropos Nachbar: In der kafkaesken Kammerspiel-Variante von «Matrix» (1999) um einen Programmierer (Jeremy Sisto), der immer tiefer in seiner Paranoia versinkt, besticht Kier als Androiden-Bastler von nebenan. Dass er der liebenswerteste Nachbar (und Vermieter) sein konnte, veranschaulichte Kier derweil in der Age-Gap-Romanze «A E I O U: Das schnelle Alphabet der Liebe» (D/F 2022) von Nicolette Krebitz. 

«Headspace» (USA 2005)

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In Andrew van den Houtens sträflich unterschätztem, sprich: völlig zu Unrecht übersehenem Mix aus Mindfuck und Lovecraft-Hommage hat Kier seinen denkwürdigen Auftritt so spät wie selten, aber gewohnt grossartig – als undurchsichtiger Reverend. 

 

«Cigarette Burns» (USA/CDN 2005)

Udo Kier und Meta-Ebene passten immer prächtig (s. «Tod eines Weltstars», «Shadow of the Vampire»), aber selten besser als in John Carpenters Beitrag zur ersten Staffel der legendären Showtime-Serie «Masters of Horror», in dem Kiers Raritätensammler das tödliche Geheimnis eines verschollenen Films aus den 70ern lüften will.

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«Soul Kitchen» (D/F/I 2009)

Kier bevorzugte eher abgründige Filme, aber sein Gastauftritt als gut betuchter Geschäftsmann mit Schluckbeschwerden in Fatih Akins entspannter Quartierkneipen-Komödie beweist beispielhaft seine Versiertheit in allen Belangen. Lecker Soul Food.
 

«The Theatre Bizarre» (USA/F/CDN 2011)

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In diesem Horror-Episodenfilm von sieben namhaften Indie-Genre-Regisseuren im Geiste der britischen 70er-Anthologien von Amicus & Co. stiehlt Kier in der Rahmenhandlung als marionettenhafter Präsentator der sechs Geschichten allen die Show.

«The Editor» (CDN 2014)

Eine so abgefahren psychedelische wie liebevolle und höchst clevere Hommage an den Giallo, den heutzutage weltweit geschätzten italienischen Thriller der (vor allem) 60er- und 70er-Jahre, und mittendrin Kier als Psychiater – was will man mehr?
 

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«Brawl in Cell Block 99» (USA 2017)

Knallharter Knast-Thriller mit Vince Vaughn als Häftling im Ausnahmezustand, Don Johnson als sadistischer Gefängnisdirektor – und Kier als verschlagener Mittelsmann. Eine brachiale Wucht! Kurz darauf spannte er für «Dragged Across Concrete» (CDN/GB/USA 2018) nochmals mit Vaughn und Regisseur S. Craig Zahler zusammen. Diesmal des Weiteren mit dabei: Mel Gibson!

«Puppet Master: Das tödlichste Reich» (GB/USA 2018)

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Wie viele «Puppet Master»-Filme seit Teil eins von 1989 entstanden sind, weiss wohl nicht einmal mehr ihr Schöpfer und Produzent Charles Band. Dieses Reboot ist je nach Zählweise der 13. oder 18. – und neben «Puppet Master III» (USA 1991) der sehenswerteste. Auch dank Kier als André Toulon, dem Puppenmeister höchstpersönlich!
 

«Bacurau» (BR/F 2019)

Das dystopische brasilianische Drama und gesellschaftskritische Raubbau-Bashing über ein von der Regierung buchstäblich im Stich gelassenes Dorf erhält durch Kiers gnadenlosen Auftritt als Menschenjäger eine schier unerträgliche Intensität. Für eine Szene im oscarreifen «The Secret Agent» (O Agente Secreto, BR/F/NL/D 2025) spannte Udo Kier nochmals mit Regisseur Kleber Mendonça Filho zusammen – der letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Film.
 

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«The Painted Bird» (Nabarvené Ptáče, CZ/SK/UA 2019)

Die Odyssee eines verwaisten jüdischen Buben irgendwo im Osteuropa des Zweiten Weltkriegs ist eh schon starker Tobak. Beklemmende Gastauftritte von Harvey Keitel, Julian Sands, Stellan Skarsgård und natürlich Kier verstärken das emotionale Delirium immens.
 

«Swan Song» (USA 2021)

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Kier liefert in seiner ersten richtigen Hauptrolle seit Langem (und seiner letzten überhaupt) eine umwerfende One-Man-Show als lebensmüder pensionierter Coiffeur ab, der als einstiger schwuler Paradiesvogel in Ohios Provinz nochmals aufblüht. Ein so melancholischer wie humorvoller, wunderbar lebensbejahender Schwanengesang.
 

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Patrick Schneller

Patrick Schneller

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